Sonntag, 9. Juni 2024

Wahlplakate

Feine Unterschiede

Aus dem Wahllokal kommend, rekapitulierte ich noch einmal meine Eindrücke vom Wahlkampf auf Plakaten. Das mit Abstand beste hatte die PARTEI zu bieten: Es zeigte Friedrich Merz mit der Devise, die globale Erwärmung mit sozialer Kälte zu bekämpfen. Die LINKE lud zu einer Veranstaltung mit der Parole »Endlich wieder Klassenkampf!« ein: Dumm nur, dass die Linkspartei den Klassenkampf nicht versteht und die Leute, deren Interessen sie vertreten möchte, nicht erreicht. Mit Carola Rackete wird die Arbeiterklasse nicht zu mobilisieren sein.

Die SPD plakatierte: »Gegen Hass und Hetze«. Gut und schön; oder auch nicht schön, wenn man Werbung mit Selbstverständlichkeiten machen muss. Bei der Linkspartei hieß es: »Gegen Hass und rechte Hetze«. Das sagt etwas über das System der feinen Unterschiede im linken Lager. Die LINKE wendet sich an eine Wählerschaft, für die ebenso unzweifelhaft wie für die eigenen Mitglieder a priori feststeht, dass alles Böse »rechts« ist. Dass es auch Hetze gibt, die nicht von rechts kommt, das kommt diesem Milieu einfach nicht in den Sinn.

Dass Menschen, die nicht rechts stehen, Angst haben, vom grün-linksliberalen juste milieu als »rechts« gebrandmarkt zu werden, wenn sie über ihre Erfahrungen mit Zuwanderung sprechen, ist für unerschütterliche Bewegungslinke kein Thema. Wir erinnern uns: Vor der letzten Bundestagswahl machte eine Bürgerin, die vorhatte, in der ARD-»Wahlarena« dem CDU-Kanzlerkandidaten Laschet eine kritische Frage zum Thema Corona zu stellen, kurz vor der Sendung einen Rückzieher, weil sie fürchtete, als Ungeimpfte zur Zielscheibe des Hasses der sich für aufgeklärt und moralisch überlegen haltenden »Volksverpetzer«-Meute zu werden. Aber nein, cancel culture gibt es doch gar nicht. Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung mit anschließendem Shitstorm. »Progressive Linke« bekämpfen Hass und Hetze gegen die vom akademischen Woke-Kanon anerkannten Opfergruppen, während alle, die der »Dominanzgesellschaft« zugerechnet werden, vogelfrei sind. Alle, die nicht wenigstens zwei Semester Vorlesungen in critical race theory, queer theory und so weiter gehört haben, verstehen diesen Doppelstandard nicht. Spricht man mit Menschen, die kein Abitur haben, dann hört man kritische Fragen, die im linken Diskursuniversum nicht vorgesehen sind. Aber der Linkspartei ist, um den Preis der Selbstverzwergung, das milieuspezifische Distinktionsgebaren wichtiger als Selbstreflexion. Die drei Prozent, die sie heute bei der Europawahl eingefahren hat, sind die verdiente Quittung.