Wenn sie sagen, was sie sehen
Blankes Entsetzen nach der Europawahl in Frankreich: Marine Le Pens Rassemblement national wurde mit 31 Prozent mit Abstand stärkste Partei. In einer Kurzschlussreaktion löste Staatspräsident Macron die Nationalversammlung auf und schrieb Neuwahlen aus, die in knapp zwei Wochen anstehen. Umfragen sehen das RN vorn. Macron könnte dann zu einer cohabitation mit einem rechtspopulistischen Regierungschef gezwungen sein.
Natürlich gehören die in ihrer großen Mehrheit linksliberalen Kulturschaffenden zu den Bevölkerungsgruppen, die davon nichts Gutes zu erwarten haben. Die Aussicht, möglicherweise demnächst unter einer Regierung arbeiten zu müssen, von der Einschränkungen von Freiheitsrechten zu befürchten sind, ließ die Regisseurin Ariane Mnouchkine in der Libération vom 12. Juni darüber nachdenken, wie lange man ein solches Spiel mitspielen kann: Wann sollte sie ihr Theater schließen?
Das Bemerkenswerteste an den Überlegungen der 85-jährigen Grande Dame des Avantgarde-Theaters ist indes ihre hellsichtige Selbstkritik. Sie hält Macron für zu gering, um ihm die alleinige Verantwortung für das politische Desaster zuzuschreiben, und kehrt vor der eigenen Tür:
»Ich halte uns für mitverantwortlich, uns Linke, uns Kulturmenschen. Man hat das Volk im Stich gelassen, man hat nicht auf seine Befürchtungen und Ängste hören wollen. Wenn die Leute sagten, was sie sahen, sagte man ihnen, dass sie sich irren, dass sie nicht sahen, was sie sahen. Das sei nichts als ein täuschendes Gefühl, sagte man ihnen. Dann, wenn sie darauf bestanden, sagte man ihnen, dass sie Schwachköpfe seien, und dann, wenn sie noch mehr darauf bestanden, behandelte man sie als Dreckspack. Man hat aus Mangel an Vorstellungskraft ein gutes Drittel Frankreichs beleidigt. Die Vorstellungskraft ist das, was uns befähigt, sich an die Stelle des anderen zu versetzen. Ohne Vorstellungskraft kein Mitgefühl.«
Besser kann man es nicht ausdrücken.
In Frankreich entstand seit den 1970er Jahren jene intellektuelle Kultur, die nach 1990 prägend für linke Weltbilder in der ganzen westlichen Hemisphäre wurde: eine Philosophie, die soziale Wirklichkeit nicht als objektiv-materielle Gegebenheit auffasst, sondern für ein »kulturelles Konstrukt« hält. An französischen und amerikanischen Eliteuniversitäten wurden diese Theorien weiter verfeinert: Alles ist »Text«. Maßgeblich ist nicht, wie die Welt ist, sondern wie sie »gelesen« wird.
Die Vorliebe von Linksintellektuellen für »konstruktivistische« Erkenntnistheorien hat eine längere Geschichte, Lenins Kämpfe gegen linken Subjektivismus und für den Realismus legen Zeugnis davon ab. Was Lenin noch als Marotte abtun konnte, hat in Zeiten, wo die linksliberale Intelligenz maßgeblich die veröffentlichte Meinung bestimmt, eine ungeahnte Brisanz gewonnen. Wo die Ansicht, dass Sprache Wirklichkeit nicht darstellt, sondern erschafft und dass »Sichtbarkeit« von »Haltung« bestimmt wird, zum von Aktivistenmilieus, Kulturelite und Mainstream-Journalismus geteilten Credo gehört, passiert folgerichtig das, was Ariane Mnouchkine aufs Korn nimmt: Über Wirklichkeit entscheidet nur noch die Definitionsmacht. Was die Vorstellungskraft der professionellen Exegeten des »sozialen Texts« übersteigt, existiert nicht. Menschen, die einfach sagen, was sie sehen, finden kein Gehör. Ihre Erfahrungen werden entwertet und als Täuschung abgetan. Wenn sie dennoch darauf beharren, werden sie im ersten Schritt als uninformiert und im zweiten als moralisch inferior gebrandmarkt.
Empathie, die Fähigkeit, »sich an die Stelle des anderen zu versetzen«, fordern Linksliberale unentwegt – wenn es um Minderheiten geht. Das ist nicht verkehrt. Das Problem ist die unbeirrbare Hartnäckigkeit, mit der sie allen, die in ihrem Wahrnehmungsraster nur als vermeintlich »privilegierte« Vertreter der »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft erscheinen, Empathie verweigern und die Rechtschaffenheit absprechen. Wenn Menschen, die fernab der Komfortzonen von Kulturintelligenz, Medienmainstream und Politelite der Härte der Realität ausgesetzt sind – gerade im Hinblick auf Immigration, innere Sicherheit, kaputte Infrastrukturen –, einfach sagen, was sie sehen, und dann nicht gehört, sondern als minderbemittelt abserviert werden, dann rächt sich das irgendwann. Wenn alle Verantwortlichen erst 85 werden müssen, um es zu merken, könnte es zu spät sein.