»Nicht das, was ich gedacht habe«
Das Bündnis Sahra Wagenknecht existiert erst ein halbes Jahr. Es hat wenige hundert Mitglieder, die alle vom Parteivorstand ausgewählt und auf Zuverlässigkeit überprüft wurden. Doch schon jetzt kommt es zu Rück- und Austritten, die in den Medien breitgetreten werden. In vielen Fällen mögen dahinter persönliche Animositäten und gekränkte Eitelkeiten stehen. Allerdings zeichnen sich auch Konflikte ab, die im Konzept dieses neuartigen Parteiprojekts angelegt sind.
Sahra Wagenknecht vertritt heute nicht mehr die gleichen Zielsetzungen wie vor zwanzig Jahren, als sie noch der Kommunistischen Plattform der PDS angehörte und gegen die Vereinigung mit der WASG opponierte, weil sie fürchtete, die sozialistische Partei werde durch die westdeutschen Sozialdemokraten und Revisionisten korrumpiert. Was sie heute tut, ist inhaltlich weit davon entfernt, der Sozialismus steht nicht mehr auf ihrer Agenda. Viele Linke werfen ihr vor, ihn durch nostalgische Verklärung des fordistischen Sozialstaats und den Klassenkampf durch populistische Elitenschelte ersetzt zu haben.
Eine solche Kritik übersieht die Doppelbödigkeit von Sahras Strategie, der sehr wohl eine Klassenanalyse zugrunde liegt. Das Bündnis Sahra Wagenknecht steht in einer Tradition der Volksfront-Politik. Es geht um ein Bündnis aus Arbeiterklasse und Teilen der alten Mittelschicht im produzierenden Gewerbe, Dienstleistungssektor und Handel gegen die Hegemonie der »neuen Mittelklasse« (Andreas Reckwitz) aus der urban-akademischen »Wissensökonomie« und gegen die Dominanz des Finanz- und Monopolkapitals. Es handelt sich im Grunde um ein Update der »antimonopolistischen Demokratie« fürs 21. Jahrhundert. In dieses Bündnis sollen auch Mittelständler mit sozialem Verantwortungsbewusstsein einbezogen werden. Ob das funktionieren kann, wird sich nur durch trial and error feststellen lassen.
Im thüringischen Gotha sieht es im Moment eher nach error aus:
Zur Kommunalwahl war für das BSW der in der Stadt als Inhaber einer Textilreinigung und engagierter Bürger bekannte Mike Creutzburg angetreten. Er wurde mit einem stattlichen Ergebnis von 8000 Stimmen in den Kreistag gewählt. Sein Programm lautete:
»– Windkraft an Industriestandorten, nicht im Wald, für kurze Wege und Schutz des Thüringer Waldes.
– Sicherheit für Radfahrer: Ausbau von sicheren Radwegen, besonders in verkehrsreichen Gebieten.
– Digitale Infrastruktur im ländlichen Raum verbessern: schnelles Internet für alle!
– Unterstützung von Hofläden: Förderung von Eigenproduktionen und regionalem Einkauf.
– Gesunde und kostenfreie Ernährung in Schulen
– Verbesserung der medizinischen Versorgung: Ansiedlung kleiner Arztpraxen im ländlichen Raum.
– Unterstützung für bedürftige Familien, Obdachlose und Rentner: Projekte zur sozialen Integration und Förderung.«1
Über die Ablehnung von Windrädern im Wald mag man streiten – legitim ist eine solche Position auf jeden Fall, sie wird von Naturschützern wie dem NABU unterstützt. Alle anderen Forderungen werden die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise mit Gemeinsinn und sozialem Verantwortungsbewusstsein finden. So gesehen schien der Mittelständler Mike Creutzburg mit seinem bürgerschaftlichen Engagement im Grunde ein idealer Vertreter der »normalen Leute« zu sein, für die Sahra Politik machen möchte.
Kurz nach der Wahl ist Creutzburg jedoch zusammen mit einem anderen neuen Mitglied des Kreistags aus dem BSW ausgetreten. Beide haben sich der Werteunion angeschlossen.
Es ist schwierig, solche lokalpolitischen Vorgänge aus der Distanz zu beurteilen, wenn man selbst nicht vor Ort ist. Zu den Gründen des Übertritts zur Werteunion sagte Creutzburg dem MDR, »dass das BSW nicht das sei, was er gedacht habe«.2 Dem Bericht zufolge sollen bei Creutzburg und seinem Kollegen Jörg Schwerin wirtschaftspolitische Differenzen maßgeblich für das Zerwürfnis mit dem BSW gewesen sein: Der Werteunion-Landesvorsitzende Albert Weiler wird mit der Aussage zitiert, Creutzburg und Schwerin seien »beide nicht für eine weitere Erhöhung des Bürgergelds und des Mindestlohns[,] wie das BSW es fordert.«
Dass kleine und mittlere Unternehmer vom Mindestlohn wenig begeistert sind, dürfte niemanden wundern. Hier prallen eben doch gegensätzliche Klasseninteressen aufeinander. Dass Creutzburg bereits im September 2022 die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro ablehnte, geht aus Facebook-Einträgen hervor.3 Und überhaupt war er immer schon der Meinung:
»Die Entwicklung in Deutschland ist katastrophal, Menschen die mehr verdienen sollen Sozialleistungen für Menschen die gering verdienen bezahlen. Wo sollte irgendwann der Anreiz geschaffen werden mehr zu Leisten,wenn man das Geld mit denen Teilen soll die pünktlich aufhören oder die Schule abbrechen weil Sie keine Lust haben.«4
Angeblich werden Beitrittskandidaten beim BSW auf Herz und Nieren geprüft, ihre Spuren im Internet recherchiert. Wir wissen nicht, ob man Creutzburg um eine Erklärung dieser Ausdünstungen gebeten hat. Jedenfalls hat er offensichtlich geglaubt, im BSW eine Plattform für gegen die Lohnarbeit gerichtete Interessen und dumpfe Kleinbürgerressentiments zu finden. Damit hat er sich getäuscht. Das Problem ist allerdings: Nicht ganz schuldlos übt Sahra auf solche Typen aus der von ihr umworbenen »Mitte der Gesellschaft« eine gewisse Anziehungskraft aus, und das BSW muss dann zusehen, wie es sie wieder loswird.
In der Kaderpartei, die das BSW bis auf weiteres ist, sind Konflikte zwischen dem Führungskern, der ein gesellschaftstheoretisch fundiertes und durchdachtes strategisches Konzept verfolgt, und solchen mit Anti-Ampel-Rhetorik angelockten Frustbürgern durchaus vorprogrammiert. In diversen Statements haben Sahra und andere die rigide Aufnahmepolitik mit der Notwendigkeit begründet, die junge Partei vor einer Unterwanderung durch »Extremisten« zu schützen. Das viel größere Problem dürfte allerdings die Abwehr einer Unterwanderung durch die »normalen Leute« sein, die unter »Vernunft und Gerechtigkeit« die Logik des Marktes und das Ressentiment gegen deren Verlierer verstehen und über den Tellerrand von durch die Marktlogik vorgestanzten Interessen nicht hinausdenken können und wollen. Karl Marx nannte das »Fetischismus«. Wenn Mike Creutzburg jetzt seine politische Heimat in Maaßens rechtskonservativer und marktliberaler Altherrentruppe gefunden hat, ist das für das BSW kein Verlust. Ein »Extremist« ist Creutzburg sicher nicht, bloß ein normal reaktionärer Kleinbürger, der das BSW als Trittbrettfahrer genutzt hat. Das BSW wäre gut beraten, seine Attraktivität für diese Art »normaler Leute« zu minimieren. Sonst wird es nichts mit der Sozialstaatspartei.
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Mitgeteilt durch den Gewerbeverein Gotha, https://gewerbeverein-gotha.de/unsere-mitglieder-kandidieren-zur-kreistagswahl-2024-2/. ↩︎
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»Nicht das, was ich gedacht habe«: Zwei Kreistagsmitglieder wollen vom BSW zur Werteunion, 21. Juni 2024, https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/west-thueringen/gotha/bsw-werteunion-kreistag-100.html. ↩︎
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Diskussion mit dem stellvertretenden thüringischen Ministerpräsidenten und SPD-Landesvorsitzenden Georg Maier, 30. September 2022, https://www.facebook.com/story.php/?story_fbid=5504751606313201&id=1149212545200484&_rdr. ↩︎
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Diskussion über eine Tagesschau-Meldung zum Klimageld, 28. Mai 2022, https://www.facebook.com/tagesschau/posts/laut-heil-soll-das-klimageld-menschen-zugutekommen-die-nicht-mehr-als-4000-euro-/10160417928009407. ↩︎