Donnerstag, 12. September 2024

Noch’n Austritt

Lehrer findet BSW zu links

Schon wieder mal hat sich beim Bündnis Sahra Wagenknecht jemand in der Tür geirrt. Der Nordkurier meldet1, dass der Studienrat Florian Littek, der als Parteiloser auf der Liste des BSW in den Kreistag von Vorpommern-Greifswald gewählt wurde, die Fraktion verlassen hat.

»Offenbar hat er sich mit seinen Thesen bei uns nicht verstanden gefühlt«, soll der Fraktionsvorsitzende den Austritt kommentiert haben. Littek selbst wird mit den Worten zitiert:

»Statt einer neuen politischen Kraft, die unter anderem friedliche Außenpolitik, Begrenzung der Migration und eine Schulpolitik ohne Ideologie miteinander verbindet, entsteht doch nur eine Linkspartei 2.0 unter der alles dominierenden Führung einer Einzelperson Sahra Wagenknecht.«

Konkret bezog der Inhalt des Streits sich auf Fragen der Bildungspolitik. Littek, 1987 in München geboren und Lehrer am Humboldt-Gymnasium in Greifswald, äußerte sein Befremden darüber, dass »nicht nur Nostalgiker der sogenannten DDR im BSW sich eine Einheitsschule wünschten«. Sowohl die CDU als auch die AfD haben sich grundsätzlich bereit erklärt, Littek nach einer Abklärung in ihre Fraktion aufzunehmen.

Fleckendoktor und Weinkönigin …

Im Juni hatte im thüringischen Gotha der selbsternannte »Fleckendoktor« Mike Creutzburg mit seinem Austritt aus dem BSW Aufsehen erregt. Der als Inhaber einer Textilreinigung stadtbekannte ehemalige DDR-Boxmeister war nach eigenem Bekunden Mitglied des BSW geworden, um sich für eine Alternative zur AfD zu engagieren. Bei seiner Aufnahme hat man offensichtlich über seine auf Facebook gut dokumentierten, mit der Parteilinie unvereinbaren wirtschaftsliberalen Positionen großzügig hinweggesehen. Dank seiner Lokalprominenz hat Creutzburg bei der Kreistagswahl ein Spitzenergebnis erzielt. Sein Anspruch auf den Fraktionsvorsitz wurde aber zurückgewiesen zugunsten einer erfahrenen Kommunalpolitikerin mit SED-Vergangenheit. Über lokale Medien verlautbarte Creutzburg daraufhin, beim BSW handele es sich um eine äußerst gefährliche Truppe aus Linken und SED-Kadern. Die Frage eines Journalisten, wieso er denn sein Vertrauen in Sahra Wagenknecht gesetzt habe, konnte er nicht beantworten. Seine politische Heimat fand er schließlich in der Werteunion.

Das BSW funktioniert momentan als Kombination aus Kader- und Honoratiorenpartei. Kein Zweifel: Die Mehrheit der Mitglieder sind geschulte und bewährte Aktivisten und Funktionäre aus der Linken. Einen Großteil der prominenteren Namen findet man auf der Unterzeichnerliste eines vor zweieinhalb Jahren vom damaligen »Wagenknecht-Lager« der Linkspartei lancierten Aufrufs »Für eine populäre Linke«, in dem von Opposition gegen kapitalistische Herrschaft, dem Kampf für gemeinsame Klasseninteressen und demokratischem und ökologischem Sozialismus die Rede war.2 Das alles ist beim BSW kein Thema mehr. Statt gegen kapitalistische Herrschaft geht es gegen »ideologiegetriebene Politik«, an die Stelle von Klasseninteressen treten »Vernunft und Gerechtigkeit«, und den demokratischen Sozialismus hat Sahra durch ein Retro-Mittelschichtsidyll ersetzt.

Den Aufruf vom Frühjahr 2022 hatten 6500 Personen unterzeichnet. Nur ein kleiner Teil von ihnen gehört zu den Auserwählten, die ins BSW kooptiert wurden. Bei einigen von ihnen lässt sich tatsächlich ein erstaunlicher Wandel ihrer Positionen konstatieren – was nicht unbedingt verwerflich, wohl aber erklärungsbedürftig ist.3 Viele andere aber bleiben zähneknirschend auf dem sinkenden Schiff der Linkspartei, weil sie fürchten, dass man sie beim BSW nicht haben will. Stattdessen nimmt das BSW gerne Honoratioren auf: den Vorzeige-Unternehmer, die Pfälzer Weinkönigin, den Moderator aus dem Regionalfernsehen – lokal bekannte und gut vernetzte Personen, die politisch unbeschriebene Blätter sind und als Aushängeschilder und Wählermagnet dienen. Die Frage ist: Was passiert, wenn diese Honoratioren irgendwann nicht mehr nur Aushängeschild sein, sondern ernsthaft mitreden wollen? Mike Creutzburg hat sich eine blutige Nase geholt und den Ring verlassen.

… oder vielleicht doch Linke 2.0?

Mit einem zentristischen Populismus, der »weder links noch rechts« sein will, und Leerformeln wie »Vernunft und Gerechtigkeit« schafft das BSW mit seiner charismatischen Anführerin eine Projektionsfläche für alle möglichen Leute, die mit der herrschenden Politik unzufrieden sind, deshalb aber nicht gleich die AfD unterstützen möchten. Die rituelle Beteuerung, nicht »Linke 2.0« sein zu wollen, zieht Irrläufer an, die dann nach kurzer Zeit feststellen, dass ihnen das BSW trotz der komplett bürgerlichen Rhetorik immer noch viel zu links ist. Der mittelständische Lokalmatador aus Gotha, der den Mindestlohn unvernünftig und ungerecht findet, musste erkennen, dass er beim BSW zwar als Stimmenfänger willkommen war, jedoch keine Chance auf eine Parteikarriere hat. Der Lateinlehrer aus Greifswald, dessen besonderes Herzensanliegen die Förderung von Hochbegabten ist, wollte eine »Schulpolitik ohne Ideologie« und wandte sich mit Grausen ab, weil es unter BSW-Mitgliedern eine Präferenz für die »Einheitsschule« im DDR-Stil gibt. Von allen Ideologien die schlimmste ist die Ideologie der »Ideologiefreiheit«. Finnland hatte übrigens seine spektakulären bildungspolitischen Erfolge in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts dem Lernen von der DDR zu verdanken.

Zwischen Sahra Wagenknecht und wahrscheinlich allen Mitgliedern des BSW dürfte ein Konsens darüber bestehen, dass der »Linkskonservatismus« des BSW kein Konservatismus ist, der alte Eliten, Hierarchien und Privilegien bewahren will. Es geht nicht um einen Konservatismus, der die Homo-Ehe rückgängig machen oder das dreigliedrige Schulsystem aufrechterhalten will. Sondern »linkskonservativ« sein heißt einfach, die gewachsene, tradierte Kultur und Lebensweise der Mehrheit – und vor allem der Schichten mit niedrigem sozioökonomischen Status – zu respektieren und gegen das übergriffige cultural engineering der »neuen Mittelklasse« zu verteidigen. Ein solcher Linkskonservatismus oder Linkskommunitarismus beruht auf einer doppelten Abgrenzung gegen den Rechtskonservatismus, der obsolete Dominanzverhältnisse zementieren will, und den Linkslibertarismus, der mit seiner individualistisch-hedonistisch-kosmopolitischen Einstellung die Bedürfnisse der Arbeiterschaft nach Schutz und Respekt ignoriert.

In der Linkspartei hat sich die Linie des Linkslibertarismus durchgesetzt. Offene Grenzen und bedingungsloses Grundeinkommen sind aber Positionen, die jenseits der neuen Akademiker-Mittelschicht keine Zustimmung finden. Bei der Europawahl im Juni hat sie infolgedessen die Arbeiterschaft komplett verloren. Geblieben ist ihr ein recht homogenes linkslibertäres Wählermilieu, um das sie allerdings mit den Grünen und Kleinparteien wie Volt konkurrieren muss. Das wird sehr wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass sie ihre parlamentarische Präsenz einbüßt und in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Das BSW hat mit seinem »Personenkult« und zentristischen Populismus bei der Europawahl und bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen beachtliche Erfolge erzielt. Aber eines seiner Ziele hat es klar verfehlt: Zu einer substanziellen Schwächung der AfD durch die neue Konkurrenz ist es nicht gekommen; allenfalls hat es ihren Aufstieg etwas ausgebremst. Wählerwanderungen von der AfD zum BSW spielen nur eine untergeordnete Rolle, der Löwenanteil der Stimmen kam von Linkspartei und SPD. Michael Brie hat in einer bemerkenswerten Analyse in Jacobin daraus gefolgert:

»Angesichts der Tatsache, dass das BSW vor allem von links gewählt wurde, mit Abstrichen auch aus dem Feld derer, die sich als Selbständige und kleinere Unternehmer behaupten, könnte das BSW versuchen, das Profil als Partei der sozialen Gerechtigkeit, Demokratie und des Friedens weiter konsequent auszubauen. Das kann es aber nur, wenn es spätestens nach 2025 die Stärken auch von linkslibertären universalistischen Anliegen in sich aufnimmt. Es würde dann Hegel folgen und als ›siegende Partei‹ den Pol, den sie vorher bekämpfte, integrieren. Tut das BSW dies nicht, dann wird es sich nicht behaupten können.«4

Das bedeutet mit anderen Worten: Der Platz des BSW im Parteienspektrum ist objektiv links. Als Kraft eines auf Personenkult beruhenden zentristischen Populismus wird es sich kaum langfristig halten können. Dass Sahras Werben um den Mittelstand diesen weitestgehend kalt lässt, wird man auch nicht auf Dauer ignorieren können: Die verlorene Liebesmüh wird man sich irgendwann sparen. Mit der gegenwärtigen Funktionsweise als Kader- und Honoratiorenpartei wird keine gesellschaftliche Verankerung zu erzielen sein. Eine Protestpartei, die sich in wichtigen Fragen nicht festlegen will, wird es am Ende niemandem recht machen. Als linkskonservative Partei wird das BSW mit einer rein defensiven Haltung gegenüber gesellschaftlichen Transformationsprozessen auf verlorenem Posten stehen: Gerade wegen der Heterogenität seiner Anhängerschaft wird es eine universalistische Perspektive brauchen. Vieles spricht also dafür, dass das BSW sich (vielleicht unter dem Namen »BSW – Bündnis Solidarität und Wohlfahrt«) eben doch zur Linken 2.0 entwickelt: zu einer linken Volkspartei, die im Gegensatz zur abgewirtschafteten Vorgängerin wieder anschlussfähig zur Mitte der Gesellschaft ist und zeigt, dass man auf die entscheidenden Fragen von Gerechtigkeit, Partizipation und solidarischer Gestaltung der Zukunft überzeugende Antworten ohne das bevormundende cultural engineering der urbanen Akademikermilieus geben kann. Trittbrettfahrer wie Mike Creutzburg oder Florian Littek werden dann von sich aus Abstand halten.


  1. BSW-Fraktion in Vorpommern muss ersten Austritt und Kritik hinnehmen, Nordkurier vom 11. September 2024, https://www.nordkurier.de/regional/greifswald/bsw-fraktion-in-vorpommern-muss-ersten-austritt-und-kritik-hinnehmen-2868282. ↩︎

  2. Für eine populäre Linke, https://populaere-linke.de/. Die Bezeichnung »populäre Linke« knüpft an ein Buch des Politologen Andreas Nölke an. ↩︎

  3. Vgl. die Positionen von Friederike Benda, heute stellvertretende Bundesvorsitzende des BSW, im Streitgespräch mit Marc Vallendar (AfD) bei ze.tt vom 19. September 2017, https://www.zeit.de/zett/politik/2017-09/streitgespraech-zwischen-afd-und-linke-es-ist-okay-auf-die-politische-korrektheit-zu-scheissen. Der Unterschied zwischen ihren damaligen Standpunkten zu Themen von Migration bis Gendersprache und denen des BSW ist augenfällig. ↩︎

  4. Michael Brie: »Man hat klassen­verbindende Politik propagiert und klassen­spaltend agiert«, Jacobin, 19. Juni 2024, https://jacobin.de/artikel/linkspartei-die-linke-bsw-sahra-wagenknecht. ↩︎