Notizen aus der Provinz
Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat immer wieder angekündigt, parlamentarischen Anträgen von rechtsaußen dann zuzustimmen, wenn sie inhaltlich vernünftig seien. Der Ernstfall ist vor einigen Tagen in einer ostdeutschen Kleinstadt eingetreten. Dabei ging es allerdings ausgerechnet um kulturelle Symbolpolitik, die niemandes Leben irgendwie verbessert.
»Linkskonservativ« sein wäre nur dann unmöglich oder widersinnig, wenn der linke Universalismus und der konservative Respekt vor Geschichte einander ausschlössen. Dem ist nicht so.
Regenbogenfahnen sind, richtig verstanden, ein Symbol, in dem beides sich verbindet. Die Regenbogenfahne hat eine lange Geschichte. Sie geht zurück auf die Zeit der Reformation und der Bauernkriege: Sie war die Fahne des revolutionären Theologen Thomas Müntzer. Biblisch stand sie für den Bund Gottes mit den Menschen. Im 20. Jahrhundert wurde sie zur Fahne der Friedensbewegung. In den 1970er Jahren haben Homosexuelle sie aufgegriffen. Sie ist ein Symbol des Universalismus: des friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens aller. Dabei sind ihr im Laufe einer langen Geschichte unterschiedliche Bedeutungsaspekte zugewachsen.
In der mecklenburgischen Kreisstadt Neubrandenburg wehte sie vor dem Bahnhof neben dem Stadtwappen und anderen Flaggen. Sie wurde in letzter Zeit mehrmals von Unbekannten gestohlen und durch Nazi-Fahnen ersetzt. Das nahm ein Ratsherr der rechtspopulistischen Wählervereinigung »Stabile Bürger für Neubrandenburg« zum Vorwand für den Antrag, das Hissen der Regenbogenfahne an diesem Ort zu verbieten. Dafür stimmte neben dem Antragsteller die AfD als stärkste Fraktion und zusammen mit Vertretern verschiedener Wählergemeinschaften auch ein Teil des BSW, dessen Mehrheit sich enthielt und dadurch die Annahme des Antrags ermöglichte. Tags darauf kündigte der parteilose homosexuelle Oberbürgermeister Silvio Witt seinen Rückzug an: In Anbetracht vieler Anfeindungen wolle er sein privates Umfeld schützen.
Dass diese Provinzposse überregional Aufsehen erregte und allen Sahra-Hassern Munition lieferte, scheint die BSW-Kommunalpolitiker überrascht zu haben. In einer Stellungnahme ließ die Fraktion ausweichend verlauten, man wünsche sich »diese Aufmerksamkeit auch für andere Themen in dieser Stadt«:
»Wir sind der Überzeugung, dass es viele Themen gibt, die unbedingt genauso in den Fokus gehören. Dazu zählen Fragen wie der Weg zu mehr Frieden in Europa und in der Welt, sozialer Gerechtigkeit, wozu auch auskömmliche Renten oder eine Pflege, die sich alle Menschen leisten können, gehören. Mit Blick in die Stadt muss es um Themen wie bezahlbaren Wohnraum, kulturelle und sportliche Angebote genauso gehen, wie einen guten öffentlichen Nahverkehr, ausreichend medizinische Versorgung oder gesunde, kommunale Unternehmen. Die Regenbogenfahne hat Neubrandenburg bunter gemacht. Wir haben den Diebstahl und das Hissen rechter Symbole immer verurteilt […] Die Lebensbedingungen der Menschen verändern Fahnen aber nicht. Das muss jedoch im Mittelpunkt politischen Handelns stehen. Wir glauben, dass Neubrandenburg bunt, attraktiv und liebenswert ist.«1
Inwiefern das Abhängen der Regenbogenfahne »die Lebensbedingungen der Menschen verändern« sollte, bleibt das Geheimnis der lokalen Wagenknecht-Truppe. Auf der Webseite der Fraktion kommentierten mehrere Wählerinnen und Wähler die Entscheidung und ihre Begründung kritisch. Norbert Paulmann schrieb:
»Schade dass Sie die Chance sich für Demokratie, Offenheit und Toleranz zu profilieren gründlich vermasselt haben. Ich hoffe nur das Ihre Haltung im BSW eine unrühmliche Ausnahme bleibt.«
Und M. Matthes teilt mit:
»Sie haben nicht den Mut, sich gleichzeitig FÜR die Regenbogenfahne und FÜR mehr Frieden und soziale Gerechtigkeit zu engagieren??? Ich wünsche mir von Politikern mehr Standfestigkeit und kein Umfallertum – das gibt es woanders schon genug. BSW hat mein Vertrauen verspielt.«
Während Bürgerinnen und Bürger, die offensichtlich mit den Grundideen des BSW sympathisieren und zu seiner Zielgruppe gehören, eine klare Ablehnung dieser kleinkarierten Querfrontpolitik signalisieren, irritiert das Verhalten einiger Social-Media-Aktivisten aus dem Umfeld der Partei: Manche junge Wilde des Linkskonservatismus scheinen den Schulterschluss mit Rechtspopulisten und Faschisten für einen heroischen revolutionären Akt zu halten. Der Youtuber und BSW-Sympathisant »Agitator der sozialen Marktwirtschaft« meldet trotzig auf X:
»Das BSW stellt sich gegen den woken Kulturkampf und bekämpft so die Spaltung der Gesellschaft.«
Und Lukas Emanuel, BSW-Unterstützer in Dresden, gibt auf derselben Plattform zu Protokoll:
»Hier ist jemand aus der LGB-Gemeinschaft, der dieses Vorgehen vom BSW begrüßt.«
Die Analysen aller Wahlen, an denen das BSW bisher teilnahm, ergeben ein klares Bild: Den Löwenanteil seines Elektorats stellen ehemalige Wählerinnen und Wähler der Linken und der SPD, während der Zufluss an Stimmen von der AfD kaum ins Gewicht fällt. Die junge Partei müsste irgendwann lernen, dass ein »kulturkämpferisches« Fischen am rechten Rand ihr gar nichts bringt. Die meisten Wähler des BSW dürften klüger sein als manche seiner hitzköpfigen »Agitatoren«. Und vor allem gilt mit Blick auf Westdeutschland, wo die Fünf-Prozent-Hürde viel schwerer zu nehmen ist als im Osten: Was für eine Wählerschaft sollte denn hier mit einer dumpfen »Anti-Wokeness« gewonnen werden?
Eine im positiven Sinne »linkskonservative« Politik, die eine in Deutschland objektiv bestehende Repräsentationslücke füllt, wäre eine Politik, die klassische, für Mehrheiten attraktive Zielsetzungen der Linken – Stärkung sozialer Teilhabe und Ausbau öffentlicher Infrastruktur und Daseinsvorsorge, Beschneidung der Macht privater Profitinteressen – mit einer moderaten Gesellschaftspolitik verbindet. Ihr »Konservatismus« wäre nicht einer, der die Regenbogenfahne abhängen will, die doch selbst ein historisch überliefertes und längst von Mehrheiten akzeptiertes Symbol für Gleichberechtigung, Frieden und Toleranz ist. Sondern er bestünde darin, neben den legitimen Interessen von Minderheiten auch die gewachsenen und tradierten Lebensformen zu respektieren, die gerade für die unteren Gesellschaftsschichten wichtiger Bestandteil ihres Selbstverständnisses sind, statt sie von der Warte vermeintlicher moralischer Überlegenheit aus zu entwerten. Er hätte der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse immer auch Ankerpunkte der Stabilität brauchen, und er sollte darauf vertrauen, dass sozial Gewachsenes nicht zu wachsen aufhört, sondern offen für Neues ist.
Darüber besteht im BSW zweifellos eine Menge Diskussionsbedarf. Ob die neue Partei in sich eine Debattenkultur hervorbringen wird, die fruchtbarer ist als die unterirdische der Linkspartei, ist noch nicht absehbar. Es bleibt spannend.
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Stellungnahme der Fraktion BSW/BfN in der Stadtvertretung Neubrandenburg zur Regenbogenfahne, https://bsw-neubrandenburg.de/stellungnahme-der-fraktion-bsw-bfn-in-der-stadtvertretung-neubrandenburg-zur-regenbogenfahne/. ↩︎