Montag, 11. November 2024

Zum Martinstag

Kulturkampf im Kindergarten

Deutsches Brauchtum: Alljährlich sehen wir um den 11. November herum die Laternenumzüge, wo Eltern mit ihren Kindern des christlichen Heiligen Martin von Tours gedenken, der seinen Soldatenmantel mit einem Bettler geteilt haben soll. In meinem Stadtviertel mit hohem Migrantenanteil sehe ich unter den mitlaufenden Müttern immer auch welche mit Kopftuch.

Vor elf Jahren bot der 11. 11. mir einen sonderbaren Anlass zum Fremdschämen. Im November 2013 erhielt ich einen empörten Anruf von einer Frau, langjährige Montagearbeiterin in einem Metallindustriebetrieb, die mich ziemlich stark mit der Linkspartei in Verbindung brachte, obwohl ich deren Mitglied nie war. Heftig erregt sagte sie mir: »Ich wähl’ nie wieder die Linke! Die spinnen ja jetzt total.« Und ich war richtig verärgert.

Was war geschehen? Der erst wenige Jahre zuvor von den Grünen zur Linken übergetretene Vorsitzende des als besonders links geltenden Landesverbandes Nordrhein-Westfalen – seinen Namen habe ich längst vergessen – wollte gerne mal auf sich aufmerksam machen, indem er vorschlug, in Kindergärten solle man doch mit Rücksicht auf die Muslime die traditionellen Martinsfeiern durch ein »Sonne-Mond-und-Sterne-Fest« ersetzen. Durch die Boulevardpresse ging die Meldung: »Linke wollen Martinstag abschaffen« (Münchener Merkur). Andere Sprecherinnen und Sprecher der Partei (darunter Sahra Wagenknecht) distanzierten sich schnell. Der Zentralrat der Muslime erklärte, dass aus islamischer Sicht überhaupt nichts gegen Martinsfeiern spricht. Dennoch wird der vermeintlich inklusive und multikulturelle Mumpitz tatsächlich in manchen »fortschrittlichen« Kindertagesstätten in Nordrhein-Westfalen und Hessen praktiziert.

So ist das mit der überbordenden political correctness: Die Leute, die gerne den christlichen Kirchen ans Bein pinkeln wollen, indem sie die Muslime vorschieben, machen die Rechnung ohne den Wirt. Wann hat jemals irgendein Muslim verlangt, Martinsumzüge umzubenennen? Die allermeisten Muslime haben kein Problem mit christlichen Festen und Bräuchen, eher mit unserem Säkularismus. Keinem Muslim würde mit einem »Sonne-Mond-und-Sterne-Fest« ein Gefallen getan: Im biblischen Weltbild, das auch das des Korans ist, sind Sonne, Mond und Sterne einfach Beleuchtungen, an denen es nichts zu feiern gibt. Vor zweieinhalb Jahrtausenden hat das Judentum einen gewaltigen Schub der Aufklärung in Gang gesetzt, indem es rigoros die Schöpfung vom Schöpfer unterschied, die Natur entzauberte und Götzendienst und Aberglauben verbot. Das Christentum und der Islam haben dieses Weltbild übernommen. Ein Sonne-Mond-und-Sterne-Fest wäre für Muslime ebenso wie für Christen und Juden ein Rückfall ins Heidentum.

Die eigentliche Pointe der Geschichte aber ist: Die Frau aus der Arbeiterklasse, die sich bei mir über den dummlinken Unsinn beschwerte, ist keine Christin. Sie gehört keiner Kirche an und ist nicht getauft. Auf die Frage, was Ostern und was Pfingsten ist, müsste sie wahrscheinlich passen. Sankt Martin hingegen sagt ihr etwas. Er ist Teil ihrer Kindheit, Teil einer Kultur, in der sie aufgewachsen ist. Menschen wie sie plagt die Angst, dass man ihnen im Namen von irgendwem etwas wegnehmen will. Politische Traumtänzer, die meinen, unbedingt Traditionsabbrüche forcieren und das eigene kulturelle Analphabetentum zur Norm erheben zu müssen, ahnen nicht, was sie damit anrichten – vor allem dann, wenn es dafür überhaupt keinen vernünftigen Grund gibt und weder Alteingesessene noch Eingewanderte etwas davon haben. Sinnlose Zerstörungswut, getragen von banausischer Ahnungslosigkeit, schadet beiden gleichermaßen.

1973 schrieb der bekannte linkssozialdemokratische Politologe und Marx-Erklärer Iring Fetscher einen interessanten Essay unter dem Titel »Konservative Reflexionen eines Nicht-Konservativen«.1 Der Kerngedanke lautete: Menschen haben einerseits ein Recht, sich zu verändern – das »Recht, ein anderer zu werden«, von dem die linke Theologin Dorothee Sölle sprach. Ebenso gibt es aber auch ein »Recht, man selbst zu bleiben«. Beide stehen gleichrangig nebeneinander und wären demokratisch zu verhandeln. Heute würden unsere »Links-Progressiven« Fetscher deswegen wohl zum »Rechten« stempeln. Seit die Linke darauf verfallen ist, den Feind nicht mehr in der herrschenden Klasse, sondern in der »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft zu sehen, führt sie fehlgeleitete Kulturkämpfe, die darauf zielen, Lebenserfahrungen zu entwerten, unter Verdacht zu stellen und durch hirnrissige Konstrukte zu ersetzen, die es vorgeblich allen recht machen wollen, aber von niemandem außerhalb der eigenen Echokammer angenommen werden.


  1. In: Merkur Nr. 305, Oktober 1973, S. 911–919, Volltext auch unter https://www.merkur-zeitschrift.de/iring-fetscher-konservative-reflexionen-eines-nicht-konservativen/. ↩︎