Dienstag, 10. Dezember 2024

Thatchers Vordenker

Marktradikaler Exzentriker

Vor 30 Jahren starb in London der konservative Politiker Sir Keith Joseph. Er gilt als Erfinder des »Thatcherismus«.

Wenn wir vom britischen Konservatismus sprechen, denken sicher die meisten unwillkürlich an Margaret Thatcher als prägende Figur. Aber die »Eiserne Lady« war eine für die Tradition ihrer Partei relativ untypische Erscheinung. Seit Benjamin Disraeli dominierte bei den Tories der pragmatische, auf sozialen Ausgleich bedachte one nation conservatism. Monetaristische und marktradikale Positionen, die in der Nachkriegszeit vor allem Enoch Powell vertrat, blieben lange in der Minderheit. Vordenker der Wende zum Neoliberalismus war nach 1970 der 1918 geborene Jurist Sir Keith Joseph. Der Baron mit jüdischen Vorfahren galt als typisch englischer Exzentriker, der kein »Fettnäpfchen« ausließ; der am Trinity College in Dublin lehrende Psychiater Michael Fitzgerald schrieb ihm autistische Züge zu. Charakterlich für Spitzenämter ungeeignet, wirkte er als Stratege im Hintergrund.

Sir Keith arbeitete ab 1957 in den konservativen Regierungen unter Harold Macmillan und Alec Douglas-Home zunächst im Apparat, unter anderem im Bauministerium. Unter Premierminister Edward Heath war er in den Jahren 1970 bis 1974 Staatssekretär im Sozialministerium. Weil Heath zu Kompromissen neigte, konnte Joseph die marktliberale Orientierung, die er innerparteilich propagierte, damals noch nicht durchsetzen. Nach der Wahlniederlage von 1974 wurde er zum engen Vertrauten von Margaret Thatcher.

Irritiertes Aufsehen erregte Keith Joseph im Oktober 1974 mit einer verunglückten Rede auf einer Konferenz im Grand Hotel von Birmingham. In ihr drängte er darauf, dass die Tories ihr Profil in klarer Abgrenzung von der Labour Party schärfen müssten: Während die Linken einerseits die Ökonomie staatlicher Lenkung unterwarfen und andererseits moralischen Libertinismus propagierten, sollten Konservative für Eigenverantwortung, Moral und Tradition einstehen und den Staat aus der Wirtschaft heraushalten. In einer Schlussbemerkung wich er von der Parteilinie ab, indem er für Geburtenkontrolle plädierte: Das »Humankapital« sei gefährdet, weil der von der Linken verursachte Sittenverfall dazu geführt habe, dass junge Frauen mit niedriger Intelligenz uneheliche »Problemkinder« zur Welt brächten, die dann zu Sozialfällen würden. Mit dieser Entgleisung, die Proteststürme nach sich zog, hat Joseph seine Chance auf den Parteivorsitz und damit auf die Kandidatur fürs Amt des Regierungschefs verspielt. Stattdessen gründete er den think tank Centre for Policy Studies in Zusammenarbeit mit dem Ex-Kommunisten Sir Alfred Sherman und der neuen Favoritin Thatcher, die ab 1979 den von ihm konzipierten Kurs der Deregulierung und Privatisierung in die Tat umsetzte.

Dabei haben Angehörige seines Umfelds immer bestätigt, dass Joseph in seiner Geradlinigkeit subjektiv ehrlich war: Fleißig, gewissenhaft und uneigennützig glaubte er ernsthaft an seine Mission. Sein Auftreten soll etwas Naives, Unschuldiges an sich gehabt haben. Er konnte sich das Zusammenleben von Menschen wohl nicht anders vorstellen denn als betriebswirtschaftliche Optimierungsaufgabe. Das Fehlen humaner Empathie war verbunden mit einer irrlichternden Intelligenz, die marktförmigen Sozialdarwinismus und Eugenik als Schlüssel zur Prosperität sah. Man fühlt sich an Thilo Sarrazin erinnert, aber auch eine Parallele zu einem anderen berühmten englischen Exzentriker liegt nahe: Um 1800 galt Jeremy Bentham, von Karl Marx später als »Genie in der bürgerlichen Dummheit« tituliert, mit seinem sozialtechnologischen Utilitarismus als fortschrittlich.

Im Kabinett Thatcher diente Joseph zunächst als Minister für Industrie, später für Bildung und Wissenschaft. Ironischerweise scheiterte sein Plan, zur Entlastung des Staatshaushalts Studiengebühren zu erheben und Stipendien zu kürzen, am empörten Widerstand der konservativen Mittelschicht. Sein Vermächtnis: Um die Macht des Staates und seiner Beamten zu beschränken, veranlasste er die Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen und die Einrichtung von Elternabenden. Keith Joseph zog sich 1986 aus der Politik zurück.